Nürtingen

Die Film-Community Letterboxd: Das Internet, wie es sein sollte

Netz G’schwätz: Letterboxd hat sich in den vergangenen Jahren zum ersten Anlaufpunkt für Filmnerds entwickelt. Und das obwohl, oder gerade weil, dort vieles auf dem Stand der frühen 2000er-Jahre ist. Doch wie lange noch?

Die Community Letterboxd entwickelt sich zur ersten Anlaufstelle für Filmfans. Foto: Courtesy of Letterboxd

NÜRTINGEN. Das Internet war ein Fehler. Irgendjemand musste das ja mal sagen. Normalerweise erwartet man nach so einer Aussage ein sofortiges „Aber“. Doch aus Spannungsgründen muss das ein wenig warten. Auch ein guter Filmplot löst sich schließlich nicht in den ersten fünf Minuten auf.

Also zurück: Das Internet war ein Fehler, weil es mittlerweile viel zu anstrengend geworden ist. Selbst den Millennials, die erste Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, bereitet das Surfen heute meist eher Mühe als Erholung. Hinter jeder Ecke scheint es, als verberge sich ein Pop-up, ein Betrugsversuch, oder ein Influencer, der jemandem eine homöopathische, mit Walplazenta angereicherte Gesichtscreme andrehen will. Um es kurz zu sagen: Das Internet hat seine Unschuld verloren, und das schon lange.

Die Zeiten sind vorbei, als man sich noch in Foren traf, um über Probleme zu diskutieren; als soziale Medien noch tatsächlich sozial waren; und als man noch nicht beim Schauen lustiger Videos von einer fremden Regierung ausgespäht wurde. Was früher an den Wilden Westen erinnerte, ist nun größtenteils durchkapitalisiert. Grundsätzlich ist das nicht schlimm. Guter Content sollte - ja muss sogar - kosten, damit er fortleben kann. Doch leider erinnert das Netz dieser Tage nicht an das KaDeWe, sondern an einen zwielichtigen Hinterhof-Basar.

Lichtblick Letterboxd

Und nun kommt das große Aber: Denn natürlich war das Internet kein Fehler. Vieles hat sich nur fehlerhaft entwickelt. Die Grundidee steht in einer Reihe mit den größten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte, vielleicht sogar an ihrer Spitze. Der weltweite, rasend schnelle Wissensaustausch hat uns Jahre nach vorne katapultiert. Heute durchdringt das Internet jede Ecke und jedes Ende unseres Lebens. Und wo es gut ist, ist es hervorragend. Es lohnt sich also auch heute noch, im morastigen Dickicht des Webs nach den Lichtblicken zu suchen.

Einer davon ist die Homepage Letterboxd. 2011 von Matt Buchanan und Karl von Randow gegründet, hat sich die Seite in den vergangenen Jahren zu der ersten Adresse für Film-Nerds entwickelt. Heute rangiert Letterboxd irgendwo zwischen sozialem Medium, Film-Datenbank und Forum.

Das Prinzip ist das Gleiche wie bei den ehemaligen Platzhirschen IMDB und Rotten Tomatoes: Wer etwa Informationen zur Besetzung eines Films sucht, wird hier fündig. Auch seinem inneren Kritiker darf freien Lauf gelassen werden. Filme können in Halbschritten von null bis fünf Sternen bewertet werden, außerdem kann man einen Film liken, also mit „gefällt mir“ markieren.

Einfache Mechanik, große Auswirkung

Die Likes sind so einfach wie genial, denn sie öffnen eine neue Ebene in der Filmbewertung: Wir alle haben uns wohl schon einmal dabei erwischt, dass wir viel Spaß mit einem Trash-Film hatten. Bewerten wir ihn so objektiv wie möglich, hat er allerdings wohl nicht die perfekte Punktzahl von fünf Sternen erreicht. Trotzdem hat man sich kaputt gelacht oder zwei kurzweilige Stunden mit ihm verbracht. Nicht umsonst unterscheidet sich die Liste der meist geliketen Filme auf Letterboxd stark von der mit den besten Bewertungen.

Listen sind neben den Kritiken das Herzstück von Letterboxd. Wer wollte Freunden noch nie eine Aufreihung seiner Lieblingsfilme zukommen lassen? Wer in die Community eintaucht, findet eine ganze Reihe davon, mit einer unerhörten Bandbreite.

Wer sagt, Listen können nicht lustig sein?

So gibt es zum Beispiel einerseits „Die besten japanischen Filme aller Zeiten – ein Handbuch zum japanischen Kino“. Andererseits auch Listen wie „Hallo, ich möchte einen Poster-Diebstahl melden“, wo ein User Filme nebeneinander stellt, die sich offensichtlich der gleichen Plakat-Designidee bedienen. Das reicht bis zu absurden, hyperspezifischen Listen mit nur zwei Filmen, etwa: „Von Sean Porter gedrehte Filme, in deren Titel das Wort ‚Green‘ vorkommt, gefolgt von einem Wort mit vier Buchstaben, das in der Mitte zweimal den Buchstaben ‚O‘ hat, in denen reisende Musiker auf Rassisten treffen.

Seit einiger Zeit sind auch die Academy-Awards auf Letterboxd aktiv. Für die anstehenden Oscars sind daher die Nominierten aller Kategorien in Listen zu finden. Auch Martin Scorsese, „The Bear“-Darstellerin Ayo Edebiri und andere Prominenz der Filmszene haben öffentliche Profile und schreiben regelmäßig Kritiken. Die Dunkelzahl der berühmten User dürfte weit höher sein. Zahlreiche A-Lister haben zugegeben, heimlich auf der Seite Reviews zu schreiben.

Selbstdarstellung: Nahezu unmöglich

Das Schöne an einem sozialen Medium wie Letterboxd ist, dass sich niemand wichtig machen kann oder will. Egal wie populär die Filmkritik ist, Profit können User keinen daraus ziehen. Influencer sucht man dort deshalb vergebens. Geschrieben wird lediglich für die Unterhaltung anderer oder der eigenen.

Eine lebendige Community, interessanter Content und Nerdiges hinter jeder Ecke: Alles fühlt sich auf Letterboxd an wie das Internet der frühen 2000er-Jahre; ein großer, kuscheliger Millennial-Safe-Space. Die Frage ist, wie lange das noch so bleibt.

Noch sind alle wichtigen Features kostenlos. Es gibt die zwei Bezahlstufen „Pro“ und „Patron“, die 20, beziehungsweise 50 Euro pro Jahr kosten. Um glücklich zu sein, braucht man keine der beiden. Mit der Pro-Version kommt zwar eine nützliche Funktion hinzu: User können alle Streaming-Anbieter, die sie zur Verfügung haben (auch zum Beispiel ARD- und arte-Mediathek) in ihrem Profil vermerken.

Wenn ein Film, der auf der eigenen Watchlist steht, dort hinzugefügt wird, schickt Letterboxd automatisch eine Benachrichtigung. Die Features in der teuersten Patron-Version sind aber eher kosmetischer Natur.

Was passiert mit Letterboxd?

Ende 2023 wurde Letterboxd jedoch an die kanadische Holdinggesellschaft Tiny verkauft. Tiny hat beteuert, dass das Geschäftsmodell nicht geändert werden soll. Die Angst in der Community ist allerdings groß, dass sich nun vieles ändert.

In absehbarer Zeit sollen auch TV-Serien ihren Weg auf Letterboxd finden. Das sei aber nicht von Tiny vorangetrieben, sagen Buchanan und von Randow im Gespräch mit Variety. Beide Letterboxd-Gründer bleiben auch nach dem Kauf die Entscheidungsträger. Das Engagement von Tiny soll sich nur auf gelegentliche Meetings und Finanzberichte beschränken.

Ob das so bleibt, oder ob mit den neuen Besitzern auch eine der letzten Nischen des klassischen Internets fällt, bleibt abzuwarten.

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