Netflix geht live: Wer zum Teufel braucht das?

Netz G’schwätz: „Dinner Time Live With David Chang“ ist die erste Live-Kochshow des Streaminganbieters. Das amerikanische Unternehmen verliert damit immer mehr seine Kernkompetenz aus den Augen – und das bei steigenden Abopreisen.

Dave Chang ist Gastgeber der ersten Live-Kochshow auf Netflix. Foto: Adam Rose / Netflix

„Das Netflix des Sports“, „Netflix für Kochfans“, „Das Anime-Netflix“ – der Name des amerikanischen Streaming-Unternehmens hat sich in den vergangenen Jahren als Beschreibung aller möglichen Homepages eingebürgert, die eines gemeinsam haben: Das Abrufen von Videoinhalten wann man will, wo man will. VODs, also Video On Demand, ist die Kernkompetenz von Netflix. Damit hat das Unternehmen weltweit mittlerweile mehr als eine Viertelmilliarde Kunden angehäuft.

Doch offenbar ist das nicht genug. Seit einiger Zeit drängt Netflix auch auf den Live-Markt. Direkt auf der Homepage und in den jeweiligen Apps kann neuerdings eine Vielzahl an Events gestreamt werden. Das reicht von Award-Verleihungen über Tennis-Matches bis zu Stand-up-Comedy. Der neueste Clou ist offenbar „Dinner Time Live With David Chang“, die erste Live-Kochshow des Unternehmens. Es drängt sich die Frage auf: Wer zum Teufel hat sich das gewünscht?

Wenn Amerika live sendet, schaut Deutschland in die Röhre

Einige der Sendungen sind auf den europäischen Markt zugeschnitten und laufen daher zu den klassischen Prime-Time-Zeiten. Doch amerikanische Abendshows werden wegen der Zeitverschiebung in Europa mitten in der Nacht ausgestrahlt. „Dinner Time Live With David Chang“ läuft etwa immer mittwochs um 1 Uhr europäischer Zeit.

Natürlich kann man das im Nachhinein auch in gewohnter Netflix-Manier on demand streamen. Doch dann krankt das Format daran, dass der Charme einer Live-Übertragung wegfällt. Gleichzeitig bricht regelmäßig das Chaos aus, das für eine solche Sendung eben typisch ist.

Nervosität plus Livesendung ist kein gutes Rezept

Chang wird vielen Kochnerds ein Begriff sein. In den USA taucht er in nahezu jedem Beitrag auf, der mit Esskultur zu tun hat. Als Sohn koreanischer Einwanderer hat er sich in den vergangenen Jahren ein echtes Gastro-Imperium aufgebaut. Angefangen bei den Flaggschiff-Restaurants der Momofuku-Linie über Feinkost bis zu Kochbüchern ist so ziemlich alles in seinem Sortiment. Auch Michelin-Sterne prangen oder prangten auf einigen seiner Lokale. Grundsätzlich liegt sein Fokus aber auf elaborierter Hausmannskost.

Man könnte Chang ein wenig als amerikanisches Pendant zu Tim Mälzer sehen. Allerdings nur fast, denn Chang ist zwar deutlich erfolgreicher. In Live-Shows wie „Dinner Time Live“ scheinen ihm allerdings das hin und wieder überbordende Selbstbewusstsein des Hanseaten und seine Bühnenerfahrung zu fehlen.

Und da Live-Übertragungen und Nervosität selten gut miteinander harmonieren, kommt es, wie es kommen muss: So ziemlich alles läuft schief. Chang schafft es, Croutons zu Briketts zu verwandeln. Pochierte Eier übergaren bis zur Unkenntlichkeit. Und die „französischen Gnocchi“ lösen sich ähnlich schnell auf wie der rote Faden (Gerichte vom Huhn), an dem sich die erste Folge eigentlich entlanghangeln wollte.

Die Gäste sorgen für Frust statt Unterhaltung

Auch bei den Gästen wäre eine Schnittschere in der Postproduktion dringend nötig gewesen. In jeder Folge bekocht Chang zwei Freunde oder Bekannte. Die kommentieren in amerikanisch-enthusiastischer Manier jeden Gang mit „Oh“ und „Ah“, sind aber sonst leider furchtbar langweilig. Auch, weil sie offenbar keine bis wenig Ahnung vom Kochen haben.

In der ersten Folge sitzen Steven Yeun (bekannt aus „Beef“) und Rashida Jones („Parks and Recreation“, „The Office“) am Esstisch. Wirklich spannende Anekdoten liefern beide nicht. Dafür fragt Jones, ob Gnocchi so etwas wie ein Risotto sind. Die Frage an sich mag für Kochenthusiasten schlimm genug sein. Als Chang allerdings antwortet, man könne es eher mit Spätzle vergleichen, wird neben dem Wasser vermutlich auch der ein oder andere Schwabe kochen.

Netflix sollte sich wieder darauf fokussieren, was es kann

Netflix war damals angetreten, um dem linearen Fernsehen den Garaus zu machen. Nun entwickelt sich der Streaminganbieter aber genau in das Produkt, das er besiegen wollte: Live-Formate und das Ganze, je nach Abo, auch noch mit Werbung. Gerade bei Sendungen, die wegen der Zeitverschiebung in Europa zeitlich nahezu unschaubar sind, bringt das für den Nutzer allerdings überwiegend Nachteile mit sich. Dabei war Netflix im Kochsegment jahrelang führend. Sendungen wie „Chef’s Table“ und „Ugly Delicious“ (ebenfalls mit Chang) gehören zum Besten, was in der Kulinarik je über den Bildschirm flimmerte.

Warum den Fokus nicht auf solche Formate legen, statt den Sprung ins ungewisse Live-Wasser zu wagen? Es gäbe zahlreiche hervorragende Eigenproduktionen, die nach ein oder zwei Staffeln abgesetzt wurden, weil sie angeblich zu teuer waren. Nachdem Netflix seit einiger Zeit stark gegen das Account-Sharing vorgeht und schon wieder eine Preiserhöhung angekündigt hat (Premium für 19,99 Euro), wird sich der ein oder andere überlegen, ob sich das Abo für ihn noch lohnt. Kommt dann das Gefühl auf, dass das eigene Geld in halbgare Live-Shows fließt, statt in fertig produzierte Formate, erleichtert das die Entscheidung ungemein.

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