Apokalypse 2.0 mit „Leave The World Behind“
Netz G’schwätz: Im neuen Netflix-Film mit Julia Roberts werden moderne Gewissheiten über den Haufen geworfen. Für unseren Redakteur ist das auch an den Weihnachtstagen durchaus amüsant, spannend und vielleicht sogar lehrreich.
Einfach mal so die Welt hinter sich lassen: Klingt fast wie der Slogan eines Ferienanbieters. Und tatsächlich wollen die Sandfords (Julia Roberts und Ethan Hawke) im neuen Netflix-Spielfilm den Moloch Manhattan für ein paar Tage hinter sich lassen. Rasch ein entsprechend schickes Haus auf Long Island gechartert, genau dort, wo schöne und (erfolg)reiche New Yorker so urlauben, und los geht es mitsamt ihren Teenager-Kindern Rose (Farrah Mackenzie) und Archie (Charlie Evans).
Dumm nur, dass die Airbnb-Sause nicht so läuft, wie sich die Sandfords das vorgestellt haben. Handy und Internet fallen aus – und der Strandaufenthalt erreicht seinen Höhepunkt, als ein Öltanker über den feinen Sand der Atlantik-Halbinsel rodet.
Schlimmer aber noch als diese alles andere als alltägliche Wassersporteinlage trifft die digital-dekadenten Großstädter die Tatsache, dass am Abend im High-End-Ferienhaus weder TV noch Internet verfügbar sind. Da wird doch nicht doch etwas passiert sein?
Die Situation spitzt sich für die Wohlstandsfamilie allerdings erst so richtig zu, als am Abend der Besitzer des Hauses im feinen Wall-Street-Zwirn mit seiner Tochter (so richtig gut: Mahershala Ali als George Scott und Myha’la Herrold) vor der Tür steht. Angesichts besonderer Umstände bittet er gegen Preisnachlass
um Asyl im eigenen Protzbunker. Dieser Bitte kommt Madame Sandford nur zögerlich nach. Da könne ja schließlich jeder kommen. Wenigstens lässt sie die beiden im Keller einziehen. Mister Scott behält das vornehme Pokerface ob dieses womöglich latent rassistischen Affronts, die Tochter ist da wesentlich hellsichtiger.
In der Folge nehmen die Dinge an Fahrt auf. Regisseur Sam Esmail, mit dessen Verfilmung Vorlagenschreiber Rumaan Alam dem Vernehmen nach ziemlich einverstanden ist, streut allerhand Weltuntergangsszenarien ein. Alle möglichen Transportmittel werden in bester Blockbuster-Manier gecrasht. Seltsame Töne strapazieren Trommelfell und Nerven der Protagonisten, passend zur Filmmusik von Mac Quayle. Drohnen verstreuen seltsame Botschaften, ansonsten gibt es von draußen, aus der womöglich an ihrem Untergang arbeitenden Welt, keine Nachrichten. Die apokalyptischen Verkehrsverhältnisse verhindern einen vorzeitigen Urlaubsabbruch. Auch Menschen sind außerhalb des theaterartig auf fünf Köpfe beschränkten Ensembles kaum zu sehen. Die eine (spanisch sprechende) Hilfesuchende umkurvt Mister Sandford lieber panisch.
Kevin Bacon zückt die Flinte unterm Sternenbanner
Zum gesellschaftspolitischen Showdown allerdings lädt das Set-up einen Stargast ein. Kevin Bacon schlüpft für die Rolle von Danny in die Redneck-Klamotten eines waschechten Preppers, eines in bester US-amerikanischer Pionier-Manier auf jeglichen Weltuntergang vorbereiteten Basecap-Trägers. Der firmiert stilecht mit der durchgeladenen Flinte auf der Veranda unterm Sternenbanner und verweigert erstmal dem verzweifelten Papa Sandford die Medizin für den unter endzeitlichem Karies leidenden Sohn. In der größten Not ist sich jeder selbst eben noch ein Stückchen näher. Sandford (Ethan Hawke in seiner besten Szene) hingegen versucht dessen Trapper-Herz mit einem gejammerten Bekenntnis zu erweichen: Ohne Strom und Handy sei er doch ein Nichts.
Überhaupt ist in diesem temporeichen Apokalypse-Kammerspiel die postmoderne Gretchenfrage allgegenwärtig: Existiert die Welt überhaupt jenseits ihrer stromgetriebenen Digital-Version? Oder verschwindet sie einfach, wenn der Stecker gezogen wird? Oder gehen nur wir unter? Töchterchen Rosie beantwortet die Frage mit Zoomer-Penetranz: Für sie bleibt es angesichts der Auflösung der Restwelt das größte Problem, dass sie ohne Strom und Internet nicht die letzte „Friends“-Folge sehen kann. Pflanzt sie damit quasi Luthers Apfelbaum oder ist es doch nur tiefster Ausdruck hyperzivilisatorischer Vogel-Strauß-Haltung?
Für Mama Sandford hingegen ist die Welt wohl schon beim Blick in den Spiegel der Selbstkritik untergegangen. Julia Roberts räumt in „Leave The World Behind“ mit sämtlichen „Pretty Woman“- oder „Erin Brockovich“-Klischees auf. Die Menschen mag sie nicht – und nach dem sie das erkennt, mag sie sich freilich selbst nicht.
Spannend bis zum scheinbar offenen Ende
Was jetzt eigentlich geschehen ist mit der Welt? Der Film bleibt spannend bis zum Schluss, und das anscheinend offene Ende macht auch im cineastischen Apokalypse-Kosmos Sinn. Denn die fürchterlichste Erkenntnis für unsere sich selbst in wohlständige Watte packende Dekadenz-Gesellschaft ist durchaus die, dass nicht eine verschwörungstheoretische Machtclique Land und Planeten vor sich hertreibt, sondern dass keiner die Kontrolle hat.
Im Übrigen mag es demjenigen, dem auch an Weihnachten ein gut gemacht unterhaltsamer Weltuntergang zu wenig wäre, ein Trost sein, dass Michelle und Barack Obama neben Julia Roberts als Produzenten auftreten. Bislang produzierten sie für Netflix von der Kritik gefeierte Dokus. In diesem Spielfilm lässt sich der sanft erhobene Zeigefinger der Weltverbesserer erahnen. Der Lust am Weltuntergang tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Beste Szene: Wenn die satellitenlose Tesla-Flotte die Nerven der Protagonisten und der Zuschauer malträtiert, ehe sie sich in einen E-Mobilität-Schrottplatz transformiert. Und: Wenn die Figuren auf von Explosionen zeugenden Knalle und Rauchsäulen in der nahen und doch unerreichbaren Stadt schauen, als würden wir auf die Kriege und Krisen unserer Zeit blicken.
Lieblingsfigur – und zugleich die seltsamste Figur: Natürlich die „Friends“-verrückte Rosie, weil sie dennoch scheinbar als einzige für das abgefahrene Verhalten der wilden Tiere sensibilisiert ist.
Der amerikanische Spielfilm lässt seit 8. Dezember über 138 Minuten auf Netflix die Welt untergehen. Empfohlen ist er ab 12 Jahren.
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