Nürtingen
Verdient „The Bear“ seinen Hype? Yes, Chef!
Netz G’schwätz: Sollte man eine Serie schauen, wegen der man Schreikrämpfe und einen Putzzwang bekommt? Definitiv, findet unser Redakteur.
NÜRTINGEN. Köche sind die letzten Rock-Stars der Welt, hat Sternekoch Max Strohe mal in einem Interview gesagt. Man muss ihm recht geben. Kaum einem Berufstand lässt man derart viel durchgehen, was woanders schon lange gecancelt worden wäre. Der kettenrauchende, zutattoowierte, fluchende und Drogen konsumierende „Line Cook“, wie er besonders in den USA in den Küchen steht, ist derzeit derart im Mittelpunkt der Popkultur, dass er sogar einen eigenen Stil aus der Taufe gehoben hat. „Chef Core“ heißt die Ästhetik, bei der die Klamotten den Mustern und der Arbeitskleidung aus der Küchenwelt ähneln.
Einen maßgeblichen Anteil zum verrucht-coolen Image der Küchenbrigaden hat die Serie „The Bear“ geleistet. In der kehrt der hochdekorierte Sternekoch „Carmy“ Berzatto (Jeremy Allen White) aus der Haute-Cuisine zurück, weil ihm sein verstorbener Bruder einen heruntergekommenen Sandwich-Laden in Chicago vermacht hat. Zugegeben, die Prämisse erinnert entfernt an den Film „Kiss the Cook – So schmeckt das Leben!“ von Jon Favreau. Doch was sich in den mittlerweile zwei Staffeln von The Bear entspannt ist kein Feel-Good-Streifen wie der des „Iron Man“-Regisseurs, sondern eine packende Dramedy mit genial geschriebenen, lebensechten Charakteren.
Ein Trauma zu haben scheint Einstellungskriterium zu sein
Von der Hochküche auf Sauberkeit, Effizienz und Disziplin getriezt, findet Carmy im „Original Beef of Chicagoland“ seines Bruders erst mal einen gewaltigen Sauhaufen vor. Jeder macht was er will. Vom Posten-System sowie Jacque Pepins Technik-Schule hat noch niemand was gehört. Und sowohl Arbeitsunfälle als auch Hygieneverstöße sind auf der Tagesordnung. Klar, dass da einiges geändert werden muss.
Doch das ist gar nicht so einfach, denn der Widerstand kommt aus den eigenen Reihen. Auch weil jeder, der im Original-Beef in der Küche steht, offenbar irgendein Trauma zu verarbeiten hat. Carmy doktoriert an den seelischen Narben, die ihm sein ehemaliger Chef zugefügt hat und betrauert gleichzeitig seinen Bruder. Sein „Cousin“ Richie (Ebon Moss-Bachrach) betrauert sich und sein verhunztes Leben. Und Sous-Chefin Sydney (Ayo Edebiri) betrauert grundsätzlich alle um sie herum sowie eine in den Sand gesetzte Selbstständigkeit.
Der Ton in der Serie ist rau. Nahezu jeden Charakter lernt man mindestens einmal hassen und später wieder lieben. Und das ist nicht die einzige Parallele, die die Serie zum Gastro-Alltag schlägt. Seit „Geständnisse eines Küchenchefs“ hat es wohl kein Medium mehr geschafft, die Hitze, das Tempo und den Sound einer professionellen Küche derart lebendig werden zu lassen wie The Bear. Überhaupt wirkt das Buch von Anthony Bourdain ein wenig wie das inoffizielle Skript der Serie. Wer es gelesen hat, wird über zahlreiche Easter-Eggs stolpern.
Die Küchenstimmung ist tatsächlich so gut auf Film gebannt, dass sie manchmal gar nicht so einfach auszuhalten ist. Spätestens nach vier Folgen dürfte sich jeder erwischen, wie er im Privatleben Fragen mit dem typischen „Yes, Chef“, beantwortet, „Corner!“ oder „Behind!“ ruft. Auch das Entwickeln eines Putzzwangs oder das Träumen von Edelstahl-Oberflächen in der heimischen Küche sind nicht ausgeschlossen, je tiefer man in die Staffeln taucht.
Nach manchen Szenen muss man kurz in den Kühlschrank
Spätestens in der siebten Folge brechen dann alle Dämme der normalen Unterhaltung. Die Charaktere sind etabliert, die ersten Dramen bewältigt. Doch dann haut Regisseur Christopher Storer dem Zuschauer eine One-Cut-Folge um die Ohren; also fast 18 Minuten Küchen-Hexenkessel ohne Schnitt oder Verschnaufpausen, eermutlich eine Hommage an „Boiling Point“ von Philip Barantini.
Die Folge wird hier und da so intensiv, dass man auch im heimischen Fernsehsessel das Verlangen verspürt, für einen kurzen Schreikrampf in den begehbaren Kühlschrank zu gehen, wie es so viele Köche während eines Services tun (Spoiler-Alarm: Am besten vorher überprüfen, ob man von innen auch wieder herauskommt). Das gehört fernsehtechnisch mit zum Besten, was es in den vergangenen zehn Jahren gab.
Ein Liebesbrief an Stadt und Branche
The Bear ist ein Liebesbrief an die Küchenwelt und die Helden, die sie bevölkern. Besonders in den USA stehen dort oft gescheiterte Existenzen, ehemalige Sträflinge oder Immigranten hinter den Herden und zaubern bei schlechter Bezahlung und Knochenarbeit Meisterwerke auf die Teller der Mittel- und Oberschicht. Gleichzeitig setzt die Serie aber auch Chicago ein Denkmal. Von der Geografie bis zu Cameos lokaler Größen: „The Windy City“ ist hinter jeder Ecke von The Bear.
Es ist irgendwie bezeichnend, dass gerade Sydneys Omelette aus der zweiten Staffel zu dem Rezept der Serie geworden ist, obwohl The Bear definitiv nicht am Food-Porn spart. Kaum ein Gericht bringt immerhin Fast Food und Haute Cuisine derart zusammen. Die Eierspeise besteht schließlich sowohl als schneller Magenfüller in einem Diner wie auch als Eintrittskarte in die Hochküche. Denn der Legende nach lassen viele Chefköche ihre angehenden Lehrlinge zunächst ein Omelett kochen, um deren Grundtechniken zu prüfen.
Am Ende schafft The Bear den Spagat zwischen Fine-Dining und Imbiss meisterhaft. Tiefgang, ohne prätentiös zu wirken – Unterhaltung ohne zu unterfordern und jederzeit jede Menge Herz. Kein Wunder, dass es gleich 13 Nominierungen bei den diesjährigen Emmys hagelte. Zwei Staffeln der Serie gibt es bereits auf Disney+ zu sehen. Eine dritte ist in Planung.
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